Die Lesung

Zwischen Geschichte und Realität

Die Lesung

Spätestens nachdem die Klingel ein zweites Mal ihr „Bim-Bam“ als Aufforderung zum Öffnen der Türe durch das große Haus schickte, gab es kein Zurück mehr. Von irgendwo her war Musik zu hören. Verschiedene rhythmische Klänge waberten durch den Frühlingsabend.
Ich stand vor der Türe, angemessen gekleidet im schwarzen Anzug. Dazu trug ich ein dunkelgraues Hemd und eine etwas hellere Krawatte. Ebenfalls in grau. Meine ganze Erscheinung wäre grau gewesen, wenn da nicht der eine oder andere Farbtupfer wäre, wie beispielsweise die Grüntöne an der Brille, oder das Roségold am Armband.

Ich schaute nochmals auf die handgeschriebene Notiz mit Namen und Adresse, die ich nervös in der Hand hielt. Ja, ich war hier richtig. Kurz dachte ich darüber nach, ob es nicht besser wäre, wenn dies nicht das richtig Haus wäre und ich wieder fahren könnte. Hier sollte ich heute Abend meine erotischen Geschichten lesen.

Ich war kein Profi und entsprechend unruhig stand ich nun vor der Türe.

Nach gefühlten weiteren Stunden, die eigentlich nur Sekunden waren, öffnete sich die Türe. Ich war aber in Gedanken und bekam es nicht gleich mit. Ein großer, hagerer Mann, ebenfalls wohlgekleidet stand mir gegenüber.

»Du musst Bernd sein«, sagte er.

Was blieb mir übrig, als mit »Ja« zu antworten. »Freut mich, hier zu sein.«

Schnell wurden die üblichen Floskeln ausgetauscht. Hier ein Kompliment zum Anwesen, dort vermutlich geheucheltes Interesse an den tollen Geschichten, die ich teilweise gar nicht so gelungen fand. Aber was soll es.

Weil das Wetter uns einen warmen Spätherbst schenkte, hatte es sich ein kleiner Kreis an Zuhörern auf der Terrasse bequem gemacht. Es mochten etwa zwölf Personen im gesetzteren Alter, jedoch wohl selten über Sechzig sein, die man im Dämmerlicht der Öllampen und Kerzen erkennen konnte. Die Herren waren alle elegant gekleidet und die Damen trugen neben ihrer Haut die Facetten zwischen dem kleinen Schwarzen und dem langen Abendkleid.

Die Situation erinnerte mich ein wenig an den Stuhlkreis bei meinem Therapeuten, wenn da nicht die Eleganz der Kleidung und die Gediegenheit der Umgebung gewesen wäre.

Irgendwo weit hinten im Garten plätscherte ein Springbrunnen.

Man schaute mich neugierig an und ich mich um.

Zur Hausseite hin öffnete sich der Stuhlkreis und ein kleiner Tisch mit einer Karaffe Wasser stand neben einem freien bequemen Sessel. Dies sollte also mein Patz an diesem Abend sein.

Man stellte sich gegenseitig mit Vornamen vor.

Manche Herren waren distanziert und betrachteten mich entweder als Nahrungskonkurrent, oder als möglichen Gegner, den es zu zerreißen galt. Andere waren einfach nur neugierig, ob es mir gelingen mochte, ein erotischen Prickeln zu verursachen. Die Geschichten sollten nur der Auftakt einer Swinger Party sein.

Die Damen hingegen betrachteten mich wohl eher als Frischfleisch. Über diesen Gedanken musste ich schmunzeln. Ich dürfte der Älteste in diesem Kreise sein. Eine Dame stach aus dem Kreise hervor. Sie wurde mir zuvor als Hausherrin vorgestellt. Sie beobachtete mich betont distanziert, aber die Neugierde war deutlich zu erkennen.

‚Mögen die Spiele beginnen‘, dachte ich. Ich beschloss, mit den historischen Bildern aus Giverny zu beginnen. Ein wenig Erotik des vorvergangenen Jahrhunderts war nie verkehrt.

Und so begann ich, die Geschichten aus Giverny zu lesen. Die Zuhörer waren distanziert, aber dennoch neugierig. Und ich wagte nach einer kleineren Pause und etwas Small Talk etwas Neues. Ich bat die Hausherrin zu mir. Ich wollte, dass sie bei mir auf der Sessellehne Platz nehmen sollte. Sie sah wunderbar aus, hatte einen kurzen Rock an und ab und an blitzten die Ränder ihrer halterlosen Strümpfe hervor. Über eine weiße Bluse trug sie eine beige braune Corsage. Dies sah edel und handgearbeitet aus.

Ein wenig nervös rutschte sie auf der Lehne hin und her und nicht selten berührte sie meinen Arm.

Ich bat sie, eine Geschichte mit mir zusammen zu lesen. Zuerst wollte sie widersprechen, aber der Kreis forderte sie aufmunternd auf, mitzuwirken,

Wir lasen die Blind Date Geschichten im Wechsel der Perspektiven. Man merkte, dass sie immer nervöser wurde, während die Geschichte langsam auf ihren Höhepunkt zustrebte.

Das Publikum verhielt sich bedächtig ruhig. Manchmal vernahm man ein Räuspern; ein anderes Mal ein unterdrücktes Kichern.
Ich konnte ihrer Nähe nicht widerstehen und legte meine Hand auf ihren Po. Das Lesen fiel ihr nun deutlich schwerer und sie rutschte noch unruhiger hin und her.

Während sie las, schaute ich mich um und registrierte nervöse Gesichter. Hier und da meinte ich, eine leichte Röte in den Gesichtern erkennen zu könne. Scheinbar kamen die Geschichten endlich an.

Während ich meine Passagen las, rückte ich fest an ihre Rundungen heran und suchte ihre Nähe, während ihr Ehemann eher aufmunternd zuschaute.

Nachdem wir diese Geschichten gelesen hatten, herrschte zunächst Schweigen. Es war verstörend. Aber dann gab es ersten zaghaften Applaus. Erst klatschten wenige Hände und zögerlich folgten weitere. Irgendwie schien man sich nicht sicher zu sein, ob man diese Geschichten wirklich genießen durfte.

Man durfte.

Langsam lockerte sich die Stimmung. Getränke wurden gereicht. Man bewegte sich von Platz zu Platz und man unterhielt sich über diese frivolen Geschichten.

Für die zweite Reihe hatte ich eine meiner dunklen Geschichten aus dem BDSM Bereich ausgesucht.

Diesmal ließ ich die Hausherrin für mich lesen. Hierzu bat ich sie, auf meinem Schoß Platz zu nehmen. Ein wenig widerwillig folgte sie meiner Weisung.

»Komm her«, wies ich sie scharf an, was vom Publikum lächelnd guttiert wurde.

Das Publikum realisierte kaum, wie die Geschichte mit der Realität verschwamm. Sie genossen eine Show.

Letztendlich saß die Hausherrin schräg auf meinem Schoß und ich griff unter ihrem Po durch und versuchte, zwischen ihre Schenkel zu gelangen. Nach einiger Gegenwehr gelang es mir schließlich, meine Hand weiter vorzuschieben.

Sie begann, beim Lesen zu stottern. Im Dämmerlicht konnte ich erkennen, wie sich die Gäste annäherten und sich Pärchen bildeten, die wohlmöglich nicht zusammen gekommen waren, aber später gemeinsam gehen würden.

Irgendwann verließen wir die vorgegebenen Sätze und Worte. Der wohlgeschriebene Text ging in improvisierte Phrasen über. Später waren es nicht einmal mehr Sätze.

Und am Ende war es nur noch Lust.