Zimmer 302

Gebunden hinter geschlossenen Türen

Die Weisung

Es war nicht sonderlich spät. Es mochte etwa fünf Uhr gewesen sein. I. kam sich veralbert vor, als sie seine Karte auf dem Esszimmertisch fand. Eigentlich hatte sie heute ein Abendessens erwartet. Es war ihr versprochen. Noch alberner empfand sie den dominanten Tonfall, den sie nicht gewohnt war.

»Wie in einem schlechten Film«, dachte sie zunächst, wenn da nicht die handgeschriebenen Zeilen gewesen wären: „Ziehe dich schwarz an: dein schwarzes Kleid, deinen schwarzen Mantel, Strümpfe und Schuhe. Keinen BH, kein Höschen. Deine schwere Silber-Halskette und dein Hut sind dir gestattet.“

Mantel und Schuhe ließen darauf schließen, dass sie das Haus verlassen sollte. Bei diesem Gedanken wurde ihr schummerig und sie dachte an das entgangene Abendessen. Trotz der Anweisung zog sie als purem Trotz ein Höschen an. Nicht viel. Etwas Stoff für das moralische Empfinden. Nie zuvor hatte sie das Haus ohne Unterwäsche verlassen. Nervös ging sie auf und ab und sie fühlte, als ob sie etwas Verbotenes zu tun gedachte. Aber sie fühlte sich dabei aufgeregt, gar angeregt.
»Und nun?«, fragte sie sich und nahm die Karte erneut in die Hand. Sie bemerkte unten auf der Karte klein das Kürzel „b.w.“. Ihre zarten Hände drehten zögernd die Karte um. Dort fand sie eine lange Zahlenkombination und die Aufforderung: „Gib diese Zahlenfolge als Ziel in dein Navigationsgerät ein. Und dann fahre unverzüglich los.“

»Verrückt«, dachte sie. »Einfach nur verrückt.«
Sekundenlang überlegte sie, die Karte einfach zu ignorieren, in den Papierkorb zu werfen und sich wieder etwas Bequemes anzuziehen.
»Dieser Blödsinn!«, zeterte sie: »Was denkt er, wer er ist, dass er mir Befehle erteilen kann!«

Aber die Neugierde überwog und dies hatte er vorausgesehen. Sie nahm den Autoschlüssel und ging langsam die Auffahrt herunter. Das schwarze Kleid schwang locker um ihre Beine, überdeckt vom langen Mantel, unter dem ihre wunderschönen Beine hervorschauten. Sie spürte die Blicke der Nachbarn ihr folgen. Diese prüden Nachbarn mussten einfach da sein. Unsichtbare Augen beobachteten sie aus allen Häuser der Nachbarschaft. Verborgen hinter Armeen von Gartenzwergen und Schildern, die zeigten: „Hier kein Hundeklo.“

Hinter Gardinchen verborgen, saß die verbitterte Oma und Jungfer von Gegenüber, mit neidischen Augen ihr folgend.

Der Spanner, der ihr immer nachstellte, dürfte sie auch schon längst entdeckt haben. Seitdem er arbeitslos war, saß er ständig mit dem Fernglas auf dem Balkon. »Er beobachtet Vögel«, hatte er mal behauptet, obwohl sein Rohr ständig nur in ihre Richtung zeigte.

Und die Frau aus dem Nachbarhaus, die sie immer verdächtigte ihrem Manne nachzustellen, musste ebenfalls schon ihre Kleidung auf seine Straßentauglichkeit geprüft haben.

»Ja. Der Saum endete unterhalb des Knies«, kam ihr in den Sinn. »Das sollte passen.«

Sie war froh, sich für das Höschen entschieden zu haben. So fühlte sie sich nicht nackt.

Ihr Wagen war an der Straße geparkt. Sie musste viel zu viele Schritte unter diesen heißen Blicken zurücklegen. Die Schritte wurden immer schleppender, je näher sie dem Wagen kam. Sie öffnete die Türe, setzte sich, programmierte das Navi, welches sie Trudi nannte, und folgte den Anweisungen der elektronischen Beifahrerin.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Trudi lotste sie in das Zentrum der spießig-bürgerlichen Stadt zum Parkplatz eines unscheinbaren Businesshotels, von denen es viel zu viele in ihrer Stadt gab.

Unter normalen Umständen fuhr sie gerne Auto. Nun jedoch überwog die Anspannung. Sie zitterte vor Neugierde.

»Sie haben ihr Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der linken Seite.«, meinte Trudis Blechstimme urplötzlich.

Viel zu früh, nach ihrem Geschmack. Sie schaute sich um und sah das warme Licht aus der Hotelrezeption auf den Parkplatz strahlen. Als die zierliche Frau die Türe des Wagens öffnen wollte, hielt sie etwas unbewusst zurück. Sie wusste nicht, was sie hier tat. Und vor allem: Warum sie es tat?

»Das Höschen«, fiel ihr siedendheiß wieder ein. Sie fühlte sich schlecht bei dem Gedanken, den Anweisungen auf der Karte nicht nachgekommen zu sein. Genauso schlecht fühlte sie sich dabei, sich auf dem Parkplatz insgeheim zu entblößen – auch wenn es niemand sah. Sie griff beherzt unter ihr Kleid und zerrte das Stückchen Stoff hinunter und versteckte es verschämt in ihrer Handtasche.

Sie fröstelte innerlich.

Unschlüssig verließ sie das Auto und schaute sich um. Ein Vibrieren aus ihrer Handtasche ließ sie aufschrecken. »Das Handy!« Rein mechanisch – so wie immer – griff sie danach und las die Nachricht: „Im Kofferraum findest du eine kleine Box. Komme mit dieser Box in die dritte Etage! Zimmer 302.“
Sie tat, wie ihr geheißen wurde und wunderte sich noch gerade, wie diese Box in den Kofferraum gekommen sein mochte. Diese entpuppte sich bei näherem Hinsehen als kleine Kiste in einer geschmackvollen, dezenten Geschenkverpackung in der Größe eines Schuhkartons. »Nein. Eher ein Karton für Stiefel«, schätzte sie die Größe als geübte Zalando-Bestellerin ab.

Der Raum

Da sie konkrete Instruktionen hatte, fragte sie nicht erst an der Rezeption nach dem Zimmer. Sie erblickte den Lift am Ende der Halle und ging zielstrebig auf ihn zu. Ein letztes Durchatmen im Lift, dann deutete ein dezentes Klingeln an, dass sie im passenden Stockwerk angekommen war. Geschmeidig glitten die beiden Stahltüre zur Seite. Ein Flur mit dezentem Teppich, austauschbar wie in vielen tausend Hotels dieser Welt, führte nach links und rechts. Sie wählte den Weg nach rechts.

Leise Klaviermusik dudelte aus unsichtbaren Lautsprechern.

I. stellte fest, dass die Zimmernummern wuchsen. Sie wendete sich um. Sie suchte 3-0-2.

Es roch nach einem schweren Raumparfum. Vermutlich sollte es Frische vermitteln, aber hier, mit dem Teppich, über den schon viele tausend Füße liefen, verkehrte sich der Eindruck eher in das Gegenteil.

Sie stand vor Zimmer 302. Was erwartete sie? Diese Zimmertür sah so aus, wie alle anderen auf diesem Flur auch.

Wiederum vibrierte ihr Handy und ihre Gedanken verließen die Türe. Sie umklammerte das Handy und las voller Neugierde die Nachricht: „Die Türe steht offen. Tritt‘ ein, hänge Mantel und Hut an die Garderobe, lass das Licht ausgeschaltet – mit Ausnahme der Stehlampe – setze dich in den Sessel … und warte!“

Der besagte Weg durch das Zimmer – so kurz er auch war – kam ihr ewig lange vor. Sie setzte sich und wartete. 

Das Riechen

Er hatte vom Ende des Flures aus gesehen, wie sie in das Zimmer eingetreten war. Seine Blicke folgten ihr wohlwollend, während sie das Zimmer betreten hatte. Lächelnd registrierte er, dass sie seinen Wünschen bis dato nachgekommen war.

Er hatte seine Handy in der Hand und sendete mit einem Tastendruck die vorbereitete Nachricht: „Öffne die Box, entnehme den roten Schal und verbinde Dir die Augen. Fest! Dann weiß ich, dass Du bereit bist, an diesem Abend Vertrauen zu fühlen.“

Sie las seine Worte, löste im fahlen Licht einer Stehlampe das auberginefarbene Geschenkband. Sie zerriss das schwere Geschenkpapier, öffnete die Box, faltete das eingelegte Seidenpapier zur Seite und erfühlte den wunderbar weichen Schal. Sie schreckte zurück. Neben dem erwarteten Schal befanden sich diverse Seile in der Box. Sie konnte nicht anders: Ihre Finger glitten zunächst über die Seile. Es waren weiße Seile aus weicher Baumwolle. Sie fühlten sich gut an. Anschließend erst zog sie den Schal aus der Schachtel. Es war eine roh gewobene Seide in Blutrot und sie meinte, dass diesem Stoff ein sanfter Geruch seines Parfums entströmte. Das Rot bildete einen starken Kontrast zu ihrem schwarzen Kleid; harmonisierte allerdings andererseits mit der Farbe ihrer frisch lackierten Fingernägel. Sobald das Licht aufflammen würde, könnte er diesen Kontrast genießen, während sie mit verbundenen Augen der Dinge harrte, die folgen mochten.

Mit einer Klammer war dem Schal eine weitere Karte beigeheftet worden. Sie nahm die Karte und drehte sich der Lampe zu. Sie las einen längeren Text in seiner unverkennbar dynamischen Handschrift, die nicht immer einfach zu lesen war:
„Es wird ruhig sein, wenn Deine Sinne sich neu orientieren. Des Sehens beraubt, beginnen Deine Ohren Geräusche bewusster wahrzunehmen und Du wirst meine Nähe spüren, obwohl ich Dich kaum berühre. Vielleicht hörst Du mein Atmen und vernimmst den sanften Luftzug an Deinem Hals. So nahe werde ich Dir sein. Während uns die Ruhe langsam umschlingt, lernst Du zu riechen. Und nun: verbinde dir die Augen.“

Die Düfte von Harzen, Mädesüß und Meisterwurz kamen ihr in den Sinn. Daneben blühte der Lavendel und einige wilde Rosen. Sie begann, sich auf diese neuen Eindrücke zu konzentrieren.

Ihr Atem wurde langsamer und tiefer.

Lautlos hatte er das Zimmer betreten.

Fingerspitzen berühren sanft ihren Hals. Sie verweilten einige Sekunden. Dann endete der Kontakt und sie blieb für wenige, aber ewige Minuten allein. Sie blieb fragend zurück. obwohl sie nicht allein war.

Sie versuchte, sich die Bilder des Zimmers wieder vor Augen zu führen. Sie erinnerte sich an die Decken und Kissen auf dem weichen Bett, an die üblichen Accessoires eines Hotelzimmer und an die Spiegelreflexkamera auf dem Schreibtisch. Wieso war ihr dieses Detail nicht früher aufgefallen?

»Fühlst Du das Sonnengelb des Sessels?«, fragte er; erwartete aber keine Antwort. Seine Stimme ließ nicht zu, dass sie antwortete.
»Spürst Du das alte Holz der Armlehnen?« Auch diese Frage sollte nicht beantwortet werden.

»Riechst du die Erhabenheit der Situation, in welche du nun hinabtauchen wirst?«

Seine Worte lenkten ihre Sinne und verwirrten sie immer mehr.

Sie konzentrierte sich erneut auf ihr tiefes Atmen, wie sie es beim Yoga gelernt hatte. Sie hörte die Luft durch die Nasenflügel strömen und wie sie die leichte Last der Gerüche mitbrachten.

»Merkst Du die Abendluft des offenen Fensters auf Deiner Haut?«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie seine Hände wieder auf ihren Schultern spürte. 

Die Seile

Er stand hinter ihr und schaute auf sie nieder. Er machte dies gerne. Er hat es schon immer getan, wenn sie sich gesehen hatten. »Bald kenne ich jede Pore und jedes Fältchen in Deinem Gesicht. Er sah die sorgfältig gegelten Haare und dachte an ihren Frisör. Manchmal waren es „böse“ Worte, mit denen er kokettierte: „Haaransatz“, „Färben“, „Falten“, „Poren“, … Aber so waren Menschen einfach. So individuell. So schön.

Er betrachtete ihre Hände und die zarten Handgelenke.

Er wollte ihre Augen betrachten und war kurz versucht, den Schal abzunehmen und ihren Kopf zu sich zu drehen. Aber er unterließ es. Er wollte ihre Gedanken lesen.

Beiden kam gleichzeitig die Frage nach „Vertrauen“ in den Sinn. Ihr Rücken versteifte sich dabei. Sie sollte es in dieser Situation haben und er forderte es ein. Insgeheim frage sie sich, ob er die gemeinsamen Grenzen respektierte. »Und wenn schon? Soll er doch …«
Dann lehnte sie sich wieder zurück und entspannte sich.

Obwohl sie sich selbst jederzeit die Augenbinde herunternehmen konnte, hielt sie irgendetwas vor diesem Schritt zurück.

Sie dachte intensiv darüber nach: »Habe ich noch die Kontrolle über mein Handeln? Nehme ich den Schal ab und gehe, oder bleibe ich dennoch?«

Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Atmen. Sie kontrollierte den Rhythmus.

Ein tiefes Ausatmen.

Innehalten.

Gedanken sammeln. Ein kurzes, aber tiefes Einatmen. Ging noch mehr? Waren die Lungen gefüllt? Ging die Atmung tief genug?
Innehalten.

Und der Zyklus begann erneut.

Noch während sie sich auf ihr Atmen konzentrierte, nahm er ihre rechte Hand und schlang schnell und bestimmt eine Schlinge um das Gelenk. Mit einem kräftigen Ruck zog er ihr Handgelenk zur Sessellehne und band es fest.

Sie wusste, dass es eines der weißen Seile sein musste. I. erschrak und zitterte kurz.

Mit gleicher Geschwindigkeit und Dominanz ergriff er ihr linkes Handgelenk. schnell war auch diese Hand fixiert.

Mit fixierten Armen saß sie nun auf dem Sessel.

Kurz schaute er nochmals nach den Knoten, befand sein Werk für gut und genoss ihre Konturen unter dem dünnen Stoff, welche sich im Streiflicht der Stehlampe nun deutlich nachzeichneten.

Er griff nach ihren Knien und drückte ihre Schenkel langsam auseinander.

Sie sträubte sich zunächst und gab dann nach.

Er nahm ihre Fußgelenke und verfuhr mit ihnen, wie mit den Handgelenken. Dann trat er um sie herum und stand sehr nahe vor ihr. Sie roch ein schweres Parfum, welches sie bereits in Nuancen am Schal wahrgenommen hatte. Er musste nahe sein. Sehr nahe. Sein Atem streifte warm ihren Hals.

I. dachte unvermittelt daran, wehrlos zu sein. Wenn er zugreifen würde, …

Hart und fordernd griff unvermittelt eine Hand nach ihren Nacken; massierte ihn fast schmerzhaft durch den Stoff und sie merkte schnell, dass die Zeit der Sanftmut nun vorbei war. Seine Hände glitten auf ihre Schultern hinab. Fast wollte sie ihm „Weiter!“ entgegenrufen. Aber sie traute sich nicht, denn der Schmerz, den seine Hand verursachte, war zu präsent.

Noch schlimmer aber war der geistige Schmerz, als er seine Hand wieder von ihr nahm.

Sie wand sich, aber weitere Seile schlangen sich um ihre Hüften und hielten sie auf dem Sessel fest. Ständig umkreiste er sie wie seine Beute. Als er wieder nahe hinter ihr stand berührte er sie am ganzen Rücken. Er lies keine Luft zwischen beiden Körpern. Seine Hände griffen in den oberen Rand des Kleides und zerrten ungeduldig den Reißverschluss herunter. Sie erwartete, dass er das Kleid von ihren Schultern zerren würde. Aber wie sollte dies mit den ausgebreiteten Armen und den Fesseln gehen? Wie sollte es gehen, wenn andere Seile ihre Hüfte fixierten.

Er lies das Kleid einfach offen auf ihren Schultern hängen. Eine Demütigung. Unfertig gekleidet. Nicht ausgezogen. Nicht angezogen.
»Nichts vollendet er«, dachte sie und war irritiert. »Fehlte ihm der Mut, oder lässt er mich absichtlich zappen?«

Letzteres war der Fall. Eigentlich konnte er sich nicht beherrschen.