Das Mädchen mit der Tonkabohne

Von Oberelvenich in Gedanken in die Südsee

Das Mädchen mit der Tonkabohne

In der Südsee waren die Mondnächte besonders hell. In diesen Nächten konnte das kleine Mädchen nicht einschlafen. Dann stahl sie sich aus der der kleinen Hütte und schlich zum Strand hinunter. Tagsüber tauchte sie unter den blauen Wellen hindurch und erfreute sich an den bunten Farben der Korallenfische. Aber nachts blieb sie am Strand. Dann lauschte sie dem fernen Rauschen der Brandung zwischen den Felsen oder dem sanften Auflaufen der Wellen am Strand.
Manchmal fand sie in diesen Nächten das eine oder andere angeschwemmte Treibgut und sammelte ihre kleinen Schätze in der Schürze. Oft griff sie nach funkelnden Gegenständen. Die meisten warf sie zurück in das Meer. Selten steckte sie sich den einen oder anderen besonders schönen Gegenstand in die Tasche, um ihn mit nach Hause zu nehmen. In dieser Nacht war es aber kein glänzender, sondern ein besonders dunkler, fast schwarzer Gegenstand, der ihr Interesse fesselte und sich vom hellen Sand abhob. Dieser unscheinbare Gegenstand bildete einen deutlichen Kontrast zu all den vielen Glitzersteinen ihrer Sammlung.
Das Mädchen bückte sich und nahm den kleinen schwarzen Gegenstand auf. Neugierig betrachtete sie ihn. Er schein pflanzlichen Ursprungs zu sein und fühlte sich hart wie eine Nuss an. Dennoch war seine Oberfläche vom Wasser aufgeweicht und schrumpelig.
»Schön ist das Ding nicht«, dachte das Mädchen. Aber sie konnte sich dem Zauber des komischen unbekannten Gegenstands nicht entziehen. Sie drehte und wendete das kleine Teil zwischen den zarten Fingern und betrachtet es voller Neugierde. Es war eine Bohne des Tonka-Baumes. Aber das wusste das Mädchen damals noch nicht.
Von der Bohne ging ein besonderer Zauber aus. Das Mädchen roch an der Bohne und bemerkte einen süßlichen und zugleich auch ansatzweise bitteren Geruch. Wie Vanille. Aber Vanille kannte sie auch nicht.
Die Form der Bohne erinnerte sie an die schmalen Augen der Menschen auf dieser Insel.
»Können Bohnen lächeln?«, fragte sich das Mädchen. Aber sie bekam keine Antwort. Mit einem Stück Draht begann sie ohne ein besonderes Ziel, ein kleines Loch in die Bohne zu bohren. Es war gerade so groß, dass sie hindurchschauen konnte. Dann kam ihr die Idee, eine Kette mit der Bohne zu fertigen.
Lange Zeit trug das Mädchen ihren kleinen Schatz um den Hals. Es ging ihr gut. Die Schulnoten wurden besser und man mochte sie. Sie hatte Freunde. Auf dem Schulhof spielte sie mit ihren Freunden und man lachte viel. In dieser Zeit nahm das Mädchen die Bohne immer mal wieder in die Hand und genoss den seltsamen Duft, den sie verströmte.
Das Mädchen wurde älter. Ihre Schätze wurden uninteressant. Irgendwann, als sie die Schürze zum Waschen ablegte und ihre kleinen Schätze zu Hause in eine alte Blechdose schüttete, geriet die Bohne in Vergessenheit.
Es vergingen viele Jahre. Die Pubertät kam und das Interesse der Kinder begann sich um andere Fragen zu drehen. Die ersten Kinder begannen zu arbeiten. Nur wenigen war es vergönnt, noch weiter in der Schule zu bleiben und einen Beruf zu erlernen.
Das Mädchen war inzwischen zu einer jungen Frau herangewachsen, die sich ihrer Schönheit nicht wirklich bewusst war. Sie war irgendwie anders als die meisten in ihrem Alter. Sie war ruhiger, aber zugleich auch neugieriger und überschritt oftmals unbekannte Grenzen. Es war die Zeit, in der sich die Jugendlichen selbst verwirklichen wollten. Was gab es denn neben den Hausarbeiten in der enge des eigenen Elternhauses? Die ersten Schwärmereien bestimmten das Denken.
Die ersten Erfahrungen gab es mit den jungen Männern aus dem Dorf. Sie konnte tun, was sie wollte. Aber sie fand trotz ihrer Schönheit keine Beachtung. Sie kam sich vor, wie eine graue Maus. Vielleicht wirkte sie abweisend. Sie wusste es nicht. Beim Tanzen blieb sie meistens allein, oder wurde nur dann aufgefordert, wenn schon alle anderen auf der Tanzfläche waren und nur noch sie am Rande der Tanzfläche saß. Aber auch sie hatte ihren Schwarm. Einen ruhigen Jungen mit tiefschwarzen Haaren und Augen, der sie aber kaum beachtete. Sicher wechselte man hier und da ein paar Worte, aber man kam sich einfach nicht näher. Es war als lebten sie auf parallelen Geraden, die sich erst in der Unendlichkeit schneiden würden.
Irgendwann wollte die junge Frau ihre Wandlung vom Kind zur Frau auch in ihrem Zimmer deutlich machen. Hier und da begann sie, ein wenig aufzuräumen oder Gegenstände neu zu arrangieren. Vieles wurde einfach weggeworfen. Ihr Blick blieb an der alten Blechdose mit den Schätzen aus der Jungend hängen. Sie schüttet den Inhalt auf dem Tischlein aus. Ihre Blicke blieben an der Kette mit der Tonkabohne hängen. Mit einem Lächeln und in Erinnerungen schwelgend roch an der Bohne. Die Tonkabohne verströmte noch immer den süßlich-bitteren Geruch, wie sie es in Erinnerung hatte.
Ohne weiter darüber nachzudenken, zog sie die Kette an und sortierte ihre Schätze. Die meisten hatten an Wert verloren und sie warf die Kleinigkeiten achtlos weg. Die Kette um ihren Hals entging diesem Schicksal.
Im Laufe der Zeit stellte sie fest, dass der Duft der Bohne nicht nur sie, sondern auch ihre Umgebung wahrnahm. Der eine roch die Süße bewusst und anderen fiel lediglich auf, dass es angenehm war, sich in der Nähe der jungen Frau aufzuhalten. Gerade wenn beim Tanzen die Bohne den einen oder anderen Schweißtropfen aufnahm und die Feuchtigkeit die Duftstoffe der Bohne löste, umgab sie der Tonkaduft.
Die Tage kamen und gingen. Die Nächte folgten dazwischen. Und immer seltener blieb die junge Dame beim Tanzen außen vor. Irgendwann begann sich auch der schwarzäugige Junge für sie zu interessieren. Auch er hatte wahrgenommen, dass immer mehr Jungs aus seiner Clique mit dieser grauen Maus tanzen wollten. So probierte auch er es und es war plötzlich anders, als es jemals zuvor war. Er hatte den Eindruck, dass in der Nähe dieser Frau seine Sorgen verflogen. Die schlechten Gedanken wurden wie von einem Magneten angezogen. Zugleich wandelten sich die Gedanken in süße Gerüche, die eine ganz andere Sprache hatten.
Immer öfter zog es den Jungen in die Nähe des Mädchens.
Den Gesprächen und ersten Tänzen folgte der erste zaghafte Kuss. Dem Kuss folgten viele weitere. Dann sanfte Berührungen und irgendwann auch eine tiefe Verbundenheit.
Irgendwann, als wieder der Mond hell am Himmel stand und das Meer besonders ruhig war, wurde ein Fischerboot vom Strand ins Meer geschoben. Am gleichen Abend verschwanden ein junges Paar spurlos von der Insel. weder sie noch das Boot wurden jemals wiedergesehen. 

Und wenn der Mond wieder besonders hell erschien und das Meer ruhig war, erzählte man sich an den Feuern am Strand noch nach Jahren die Geschichte der verschwundenen Kinder, die ihr Glück in einer anderen Welt gefunden haben.